Die Larve und die Relativität der Zeit
Ja ja, die Zeit. Bereits Einstein hat herausgefunden, dass Zeit relativ ist. Ob ihm dabei wohl eine Larve geholfen hat?
Meine Larve hat eine besondere Einstellung zur Zeit: Zeit ist etwas, das nur für andere vergeht.
Bestimmte, bisher unentdeckte Blumen üben eine besondere Anziehungskraft auf Larven aus: die Zeitlupinen. Diese unsichtbaren Pflanzen sehen aus wie gewöhnliche Lupinen, sorgen aber dafür, dass sich Larven in einem nicht näher bestimmbaren Umkreis nur noch in Zeitlupe bewegen können. Mindestens eine dieser Pflanzen muss bei uns in der Nähe wachsen!
Ganz extrem merken wir ihren Einfluss zum Beispiel abends, wenn es heißt: „Und jetzt schnell den Schlafanzug anziehen.“ Bärchens Kinderzimmer liegt genau neben dem Larven-Terrarium. Es ist sogar ein paar Schritte weiter von der Treppe entfernt. Und doch passiert es erstaunlich häufig, dass unser Jüngster im Schlafanzug aus seinem Zimmer stürmt und auf dem Weg ins Bad schreit „Fertig!“, während sich unsere Larve im Bann der Zeitlupine noch immer die Treppe hinaufschleppt. Und nein, das ist keine stilistische Übertreibung! Das passiert wirklich erstaunlich oft.
Wir haben auch schon gemutmaßt, ob es nicht an der Zeitlupine liegt, sondern ob unsere Larve über besondere magische Kräfte verfügt? In der Serie Lucifer gibt es den Engel Amenadiel, der die Kraft hat, die Zeit um sich herum zu verlangsamen. Er selbst kann sich jedoch weiterhin normal schnell bewegen. Ist unsere Larve vielleicht ein Amenadiel im Mini-Format? Ein Aminidiel, der das Prinzip nicht verstanden hat? Es scheint, als würde sie sich einfach selbst verlangsamen, während die Welt um sie herum in normaler Geschwindigkeit weiterläuft. Oder beschleunigt die Larve die Zeit um sich herum und bewegt sich normal weiter? Unterliegen wir in Wirklichkeit wir einem Vorspulzauber?
Wie dem auch sei, es kann äußerst nervenaufreibend sein, einer Larve zuzusehen, die so etwas Ähnliches tut, wie „sich bewegen“. In diesem Zustand erinnert mich meine Larve immer an das Faultier in Zoomania, während ich als Judy danebenstehe und warte. Und warte. Und… wa… Moment, bin ich etwa eingeschlafen?
Betreibt man die Larvenbeobachtung professionell, erkennt man erst, mit welcher Schnelligkeit und Eleganz sich Schnecken bewegen. So lernt der passionierte Larvenzüchter die Bedeutung des Wortes „Geduld“ ganz neu kennen. Es ist wie bei einem Kleinkind, das bei Spaziergängen alle paar Schritte gebannt stehen bleibt, weil es zum ersten Mal eine Raupe, einen Stein, eine Wolke oder was auch immer sieht. Man beachte: zum ersten Mal! Die Larve läutet eine Renaissance dieser Verhaltensweisen ein, nur dass sie Steine, Stöcke und sogar ihre Spielsachen bestimmt schon mehrere hundert Male erblickt und gründlich untersucht hat.
Nun gut, wenn die Larve alle Zeit der Welt hat, warum nehme ich mir nicht auch ein bisschen davon, um tief durchzuatmen? Ich könnte mich mit einem guten Buch auf die Couch setzen und in aller Seelenruhe warten, bis die Larve die Treppe in den ersten Stock erklommen hat. Warum eigentlich nicht? Der Grund dafür ist fünf Jahre alt und zerrt in Lichtgeschwindigkeit an meiner Hose: „Mama, wann gehen wir endlich? Ich kann es fast nicht mehr aushalten!“
Komischerweise ist aber auch auf die Langsamkeit der Larve nicht immer Verlass: sonntagmorgens beim Frühstück zum Beispiel. Die Erwachsenen wollen in Ruhe genießen. Es gibt Brötchen, Obstsalat, Spiegeleier und gebratenen Speck. Natürlich nicht jeden Sonntag, dafür ist die Zubereitung zu aufwändig. Man gönnt sich so etwas ja nicht so oft. Mein Mann hat einen extragroßen Kaffee vor sich. Endlich hat jeder ein Ei, die Larve verputzt dieses in Sekundenschnelle und verlangt nach mehr. Da ich meins wenigstens mit ein klein wenig Restwärme essen möchte, weicht die Larve notgedrungen auf ihr Nutellabrötchen aus. Dieses wird ebenfalls rekordverdächtig schnell verschlungen. So schnell kann ich noch nicht einmal das erste Stück meines Eis abschneiden. Und dann wird doch tatsächlich gemeckert, warum wir bitte schön so unendlich langsam essen! Sonst hetzen wir sie ja auch immer, da könnten wir uns doch auch einmal beeilen. Schließlich hat die Larve noch äußerst dringende Dinge zu tun. In ihrem Terrarium. Unter Zeitdruck. Am Sonntag.
Unveröffentlichtes Manuskript „Die Larve – oder der steinige Weg durch die 6-Jahres-Krise“